Auch nach Tallinn sind wir früh am Tag hinein gefahren, denn bekanntlich fängt ja der frühe Vogel den Wurm 😉 . Das haben sich wohl auch andere gedacht, sprich es waren am Morgen schon viele Schulklassen, die Passagiere von vier Kreuzfahrtschiffen und mindestens ein halbes Dutzend Reisebusse in der Stadt unterwegs. Was das heißt, muss ich jetzt wohl nicht näher erläutern. Vor allem in den schmalen Gässchen entlang der Gildehäuser und entlang der beiden Beine Tallinns wurde es daher manchmal recht eng. Das Ganze mag auch daran liegen, dass die Altstadt doch kleiner bzw. kompakter ist als die Rigas und die Menschen sich somit nicht so gut „verteilen“.
Das mit den Beinen war übrigens kein Schreibfehler meinerseits: über „das kurze Bein“ (eine steile Rampe) bzw. „das lange Bein“ (eine nicht so steile dafür aber längere Variante des Aufstiegs) erreicht man von der Unterstadt aus den Domberg. Der Turm der Alexander-Nevski-Kathedrale ist natürlich schon von weitem ersichtlich und auch eines der Bauwerke, welches die Silhouette der Festungsstadt charakterisiert. Dort haben sich auch die Ländervertretungen und ein einige Ministerien angesiedelt, die tallinner Burg ist ebenfalls in der Oberstadt zu besichtigen. Von den unterschiedlichen Aussichtspunkten auf dem Domberg hat man zudem einen tollen Ausblick auf die Unterstadt und den Hafen. Bis 1877 waren Ober- und Unterstadt auch zwei getrennte Städte.
Tallinn hat zu den größten Festungsstädten Europas gehört und noch heute sind Teile der Stadtmauer intakt und bieten sich hervorragend für einen Rundgang in der Altstadt an. Der zentraler Platz ist natürlich das Rathausplatz „Raekoja Plats“ mit dem gotischen Rathaus aus dem 15. Jahrhundert. Das war leider komplett mit einer Bühne für eine Veranstaltung am Wochenende zugebaut. Drumherum verlieren sich die Menschen in einem Gewirr von Gässchen mit vielen Restaurants, Cafés und Lädelchen. Ich glaube die Dichte an Souvenirshops ist hier noch höher wie in Riga 😉 . Zu kaufen gibt es natürlich neben Postkarten und Magnete wieder allerlei Schmuck aus Bernstein. Auch viele Töpfersache werden angeboten und ich bin immer wieder geschockt, wie teuer Gleichwertiges bei uns auf dem Kunsthandwerksmarkt angeboten wird.
Auch in Tallinn können natürlich verschiedene Museen und Ausstellungen besucht werden. Das dortige Okkupationsmuseum, welches mich vom Themenbereich her ja schon in Riga interessiert hatte, war hier aber auch wegen der Installation einer neuen Ausstellung komplett geschlossen. Wir haben als Ausgangspunkt für unseren Besuch in Tallinn die Parkgarage in der Nähe des Freiheitsplatzes gewählt. Von dort aus sind wir einmal in die besagte Oberstadt, aber auch bis in in den Hafen bzw. zur Stadthalle gelaufen.
Die Tallinner Stadthalle bietet einen krassen zur Altstadt. Die Tallinna Linnahal ist ein wirklich beeindruckender Klotz aus Stahl und Beton ganz im Sowijetsyle und zwischenzeitlich auch ganz im Sowijetsyle halb verfallen. Heutzutage ist so ein Bauwerk halt schwierig unter- und instandzuhalten. Der „W.-I.-Lenin-Palast für Kultur und Sport“ war als repräsentative Multifunktionshalle geplant und gebaut worden und bis Anfang der 2000er noch in Betrieb. Schon der Treppenaufgang ist beeindruckend und vom Dach der Halle hat man einen schönen Ausblick auf den Hafen und die Schiffe. Der Aufstieg lohnt sich also – es lohnt sich aber auch beim Laufen den Blick auf den Boden zu richten, es gibt nämlich viele Löcher und wackelige Platten 😉 .
Wir haben uns natürlich auch abseits der Altstadt noch umgesehen, da wir in den Markthallen etwas Obst und Gemüse einkaufen wollten. Von der Markthalle waren wir etwas enttäuscht. Einmal war das Angebot nicht besonders frisch und aus dem Halal-Bereich im Untergeschoss des Marktes kam ein leichter Geruch von Verwesung. Ich vermute, dass dort unten geschlachtet bzw. geschächtet wurde und die Kanalisation nicht extra dafür vorgesehen ist. Außer uns scheint das aber keinen richtig gestört zu haben. Ich fand es auf jeden Fall krass und weniger angenehm und so hatten wir letztendlich wenig Lust Obst auf dem Mark zu kaufen. Auch irgendwie doof, aber wenn der Kopf einem im Wege steht …
Fernab der Altstadt hatten wir das Gefühl irgendwo Downtown in den Staaten zu sein. Es gibt doch eine beachtliche Anzahl von Hochhäusern die mit ihren verspiegelten Fensterflächen und den entstehenden Häuserschluchten der Stadt einen doch „weltmännischen“ Charakter verleihen und im krassen Gegensatz zur Altstadt stehen. Auch die Nähe zu Finnland ist merklich spürbar (eine Fähre nach Helsinki verkehrt ein paar mal täglich und hat „nur“ 80 km zu überbrücken) und wohl auch einer der Gründe, warum hier oben in Estland doch das „Geld auf der Straße“ zu liegen scheint.
Zurück in der Altstadt musste ich natürlich beim Bummeln noch etwas Süßes kaufen und habe mir bei der ersten Konditorei am Platz und zudem dem ältesten Café Tallinns eine kleine Zwischenmahlzeit gegönnt, bevor wir am frühen Abend wieder zurück Richtung unserem Auto gelaufen sind. Ihr merkt, auch in Tallinn haben wir nicht den Museums-Besichtigungs-Marathon unternommen 😉 .
Eine kleine aber feine Sehenswürdigkeit möchte ich euch noch besonders ans Herz legen. Besucht unbedingt die ukrainische-griechisch-katholische Kirche nahe der Stadtmauer (Laboratooriumi 22). Diese wurde von einem Mann aus dem Ländle mit aufgebaut den, so vermute ich, die Liebe vor über 20 Jahren nach Estland verschlagen hat. Im Inneren der kleinen unscheinbaren Kirche befinden sich farbenfrohe Ikonen und mir hat die Stimmung, inmitten der bunten Wandverzierungen und blanken Steinen sehr viel gegeben.
Für die Besucher die mit dem Schiff die Stadt besuchen ist vielleicht noch interessant zu wissen, dass sich dort am finnischen Meerbusen eine echte Tragödie abgespielt hat. Habt ihr gewusst das Tallinn gegen Beginn des zweiten Weltkrieges Schauplatz des Russian Dunkirk war? Die sowjetische Armee bzw. die Schiffe der baltischen Flotte wurden von deutschen und finnischen Truppen eingekesselt und saßen so im Hafen bzw. in der Bucht fest. Die umliegenden Kaps wurden von den deutschen komplett vermint und letztendlich hat die ganze Aktion mehr als 12.000 Todesopfer gefordert. Darunter auch viele Zivilisten die es mit dem Leben bezahlt haben zur „falschen Zeit am falschen Ort“ zu sein. Hier im Baltikum sind oft die schönen Geschichten bzw. die schöne Natur und die Freundlichkeit der Menschen eng mit der vergangenen Tragödien der Länder verbunden. Die baltischen Staaten haben alle dieses Jahr 100. Staatsjubiläum, wobei das natürlich nur bedingt über die lange und leidvolle Geschichte der russischen Besatzung hinwegtäuscht.
Bei meinem nächsten Blogbeitrag nehme ich euch aber wieder mit in die Natur, genauer in die National Parks von Estland.